„30 Jahre Mauerfall – Rückblick und Ausblick“ mit Dr. Wolfgang Schäuble

Manche Ereignisse in der Geschichte prägen eine ganze Generation. Der Mauerfall und damit die Wiedervereinigung Deutschlands vor rund 30 Jahren waren solch epochale Ereignisse. War es für die Generation „vor der Mauer“ selbstverständlich, dass die Welt in zwei Blöcke aufgeteilt war, so klingt dies für die Schülerinnen und Schüler der Heimschule wahrscheinlich so, als würde man von einer „ganz anderen Welt“ sprechen.

dr._schaeuble_vortrag_1_0.jpgDie Rektorin der Realschule Nicola Heckner wollte den Schülerinnen und Schülern einen Einblick in diese „ganz andere Welt“ ermöglichen und die Zeit des Mauerfalls durch den Bericht eines Zeitzeugen lebendig werden lassen. Dr. Wolfgang Schäuble hat als damaliger Bundesinnenminister diesen Umbruch hautnah erfahren und sogar mitgesteuert. Frau Heckner traute sich und lud den Präsidenten des Deutschen Bundestages zu einem Vortrag mit anschließendem Gespräch an die Heimschule ein. Dieser folgte der Einladung und besuchte am 11. Oktober 2019 die zehnten Klassen der Realschule und die J2 des Gymnasiums in der Aula.

Nach einem herzlichen Willkommen an Herrn Dr. Wolfgang Schäuble, auch im Namen von Herrn Oberstudiendirektor Pfister, begrüßte Frau Heckner außerdem Herrn Helmut Rau (früherer Kultusminister des Landes Baden-Württemberg), Frau Marion Gentges (Landtagsabgeordnete), Herrn Wintermaier (Wahlkreisreferent), den stellvertretenden Stiftungsdirektor der Schulstiftung Herrn Schwörer und den Bürgermeister der Stadt Ettenheim Bruno Metz.

Frau Heckners einleitende Worte zu Wiedervereinigung und geeintem Europa und die ersten Fragen zum Thema „Was hätte man anders machen können?“ bildeten die Überleitung zu dem anschaulichen und kurzweiligen Vortrag des Bundestagspräsidenten. Herr Dr. Schäuble sagte, er überlege schon den ganzen Morgen, wie er den Schülerinnen und Schülern, die die Teilung Europas nicht selbst erlebt haben, erklären soll, wie es zur Mauer selbst und zu der Mauer in den Köpfen kommen konnte.

Er versuchte „die lange Geschichte kurz zu machen“ und beschrieb die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Zerstörung und die Aufteilung Deutschlands zwischen den Siegermächten. Den Beginn der Teilung Europas verband Herr Dr. Schäuble mit der aufkeimenden Rivalität zwischen Sowjetunion und dem Westen. Diese bildete den „Eisernen Vorhang“, der Europa entzweite und der durch Deutschland verlief. So sollte der eine Teil Deutschlands Demokratie lernen und der andere den Sozialismus verwirklichen. Die innerdeutsche Grenze wurde zur Grenze zweier Weltvorstellungen, die sich gegenseitig mit Atomwaffen bedrohten. Jede Veränderung dieser Grenze schien unvorstellbar und sei eng mit der Angst vor dem Ende der Welt durch einen Atomkrieg verbunden gewesen, so Dr. Schäuble.

Die Mauer in den Köpfen bildete damals die Angst vor einem realen Atomkrieg zwischen West und Ost. „Und die Bevölkerung dachte, man müsse sich mit der Situation abfinden“, erinnerte sich Dr. Schäuble. Da aber viele Menschen vor allem in Polen, Ungarn und Tschechien und natürlich auch in der DDR „nicht in einem Gefängnis, sondern in Freiheit leben wollten“, bildete sich in den Achtzigerjahren allmählich eine Opposition gegen die sowjetische Regierung. Herr Schäuble würdigte die Entscheidung Gorbatschows, alle weiteren Proteste nicht mehr mit Militärgewalt anzugreifen. Diese „Entspannungspolitik“ bildete den ersten Schritt in Richtung Wiedervereinigung. Besonders eindrücklich beschrieb Herr Dr. Schäuble einige Gänsehautmomente auf dem Weg zur Wiedervereinigung, wie die Leipziger Demonstrationen im Herbst, an der alle Beteiligten eine Kerze in der Hand trugen und völlig gewaltlos demonstrierten. „Niemand schießt auf Menschen, die friedlich mit einer Kerze in der Hand für Freiheit demonstrieren!“

Abschließend kam Herr Dr. Schäuble zu der Mauer in den Köpfen, die bei manchen Menschen eventuell noch heute besteht. Die Freude nach der Wiedervereinigung war groß. Leider war jedoch die Wirtschaft in den neuen Bundesländern schwach und die Wiedervereinigung brachte nicht die erhoffte Gleichstellung zwischen Ost und West. Und noch heute, so Dr. Schäuble „läuft es in Frankfurt an der Oder noch nicht so gut wie in Frankfurt am Main. Das finden viele Leute ungerecht.“ Diejenigen, die die Teilung Deutschlands erlebt haben und deren Hoffnungen enttäuscht wurden, tragen vielleicht noch immer die Mauer in ihren Köpfen.

„Glücklicherweise ist das alles bei den jungen Menschen fast egal.  Heute macht es keinen Unterschied mehr, ob man in Leipzig oder Freiburg studiert. Woher man kommt, hört man allenfalls am Dialekt.“ sagt Herr Dr. Schäuble hoffnungsvoll. „Wenn wir miteinander auf Augenhöhe umgehen, dann wird es in eurer Generation keine Spaltung und keine Probleme mehr zwischen Ost und West geben.“ Die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands sei so etwas wie ein Wunder gewesen „und jetzt kommt es darauf an, was wir daraus machen“, so die Schlussworte des Vortrags von Herrn Dr. Schäuble.

fragen_realschule_0.jpgIm Anschluss an diesen geschichtlichen Überblick durften die Schülerinnen und Schüler der Heimschule ihre Fragen an Herrn Dr. Schäuble richten. Louis (Gymnasium) und Greta (Realschule) hatten sich mit ihren Klassen viele Gedanken gemacht und gemeinsam mit Herrn Gißler und Frau Kunzweiler eine Reihe interessanter Fragen erarbeitet.

Herr Gißler hatte ein Stück der Berliner Mauer mitgebracht.  Er startete das Podiumsgespräch mit der Frage, ob Herr Dr. Schäuble noch wisse, wo er persönlich am 9. November 1989 gewesen war. Herr Schäuble lachte und sagte, dass wohl jeder, der damals erwachsen war, wisse, wo er damals war. Er persönlich war bei einer Besprechung im Kanzleramt. Dort sollte geklärt werden, wo die Flüchtlinge, die aus Ungarn kamen, untergebracht werden sollten. Gegen sechs Uhr betrat dann Herr Ackermann den Raum und berichtete es gebe Meldungen, dass die DDR die Mauer aufgemacht hätte. Herr Dr. Schäuble konnte es kaum glauben und sagte zu Herrn Ackermann, soweit er wisse, sei Alkohol im Dienst verboten. „Dieser Abend war einfach unglaublich!“ erinnerte sich Dr. Schäuble.

Louis fragte, ob Herrn Dr. Schäuble an diesem Tag befürchtete, „dass diese friedliche Revolution in eine gewaltvolle umschlagen könnte“. Herr Schäuble beschrieb eindrücklich, dass man ja nicht vorhersehen konnte, wie die Sowjetunion reagieren würde. „Hoffentlich geht alles gut, habe ich mir gedacht. Die Sache war ja Spitz auf Knopf. Dass es friedlich ausging, war das eigentliche Wunder.“

Greta fragte, welches Erlebnis in dem ganzen Prozess für Herrn Schäuble das eindrucksvollste war. „Das war eindeutig der Abend des 9. November. Dass die Mauer auf war, das war eindeutig das Verrückteste.“ Er habe sechs Monate zuvor zum US-Botschafter gesagt, es würde noch zehn Jahre dauern, bis es soweit kommt und das galt noch als optimistische Einschätzung.

Herr Gißler verwies auf die 2+4-Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und fragte, ob Herr Schäuble an deren Gelingen gezweifelt hatte. Herr Schäuble erklärte, dass England und Frankreich alles andere als begeistert waren von der Vorstellung, dass ein geeintes Deutschland nach dem Krieg wieder selbst entscheiden sollte. Deutschland hatte in relativ kurzer Zeit sehr an wirtschaftlicher Stärke gewonnen und besonders Margaret Thatcher hielt ein eigenständiges Deutschland für eine Gefahr. „Ohne den Wunsch der osteuropäischen Länder Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, nicht mehr hinter dem Eisernen Vorhang zu leben, und ohne das Vertrauen von Präsident Bush, hätte es nicht geklappt!“ sagte er.

fragen_frau_kunzweiler_0.jpgFrau Kunzweiler fragte den Bundestagspräsidenten, ob er sich mit all seiner Erfahrung erklären könne, wie die AfD bei den letzten Wahlen in Sachsen und Brandenburg so viele Stimmen gewinnen konnte. Herr Dr. Schäuble wies darauf hin, dass das Erstarken rechtspopulistischer Meinungen kein rein ostdeutsches Problem sei. Auch der Wahlkreis Lahr habe in diesem Zusammenhang Schlagzeilen gemacht. Er vermutete, „dass diejenigen, die sich benachteiligt fühlen, oft die Partei wählen, die am lautesten schreit“. „Fremdes ist nur für die Menschen schwierig, die es nicht gewohnt sind. Deshalb sage ich euch Jungen: Begegnet euch! Lernt euch kennen! Lernt euch als Menschen wahrzunehmen. Reißt sie ein, die Mauer in den Köpfen!“

Frau Kunzweiler sprach Herrn Dr. Schäuble auf den Karlspreis für Verdienste im Rahmen der europäischen Einigung an und fragte, wie er die Entwicklung der Europäischen Union, vor allem den Brexit sehe. „Schmerzt ihr Herz ab und an bei dem Gedanken an diese Spaltung?“ Herr Dr. Schäuble antwortete nachdenklich: „Natürlich schmerzt mich das ab und zu, aber was will man machen? Die Entscheidung liegt bei den Ländern selbst. Ich persönlich bin der Meinung: Zukunft kann man nur gemeinsam gestalten. Wir müssen jeden Tag daran arbeiten, damit es besser wird.“ Nur sehr wenige junge Menschen in Großbritannien hätten an der Abstimmung über den Brexit teilgenommen, obwohl sie dagegen waren. Er appellierte an die Schülerinnen und Schüler: „Entscheidet mit, wenn ihr könnt. Kümmert euch, engagiert euch!“

Louis merkte an, dass mit dem Thema „Einheit“ auch das Thema Integration zusammenhängt und fragte Herrn Dr. Schäuble nach der Islamkonferenz und dem Fortschritt der Integration in Deutschland. Herr Dr. Schäuble sagte, dass es zum Glück in den Schulklassen heute kaum noch einen Unterschied mache, woher man kommt. Die Islamkonferenz sei wichtig gewesen, um zu zeigen: „Ihr gehört zu uns! Veränderung kann man nur gemeinsam gestalten. Wichtig war es auch zu zeigen, dass hier die Freiheit bei den Rechten des Anderen endet. Ich finde, wer ein Kopftuch tragen möchte, soll das tun. Wer es jedoch nicht möchte, darf nicht dazu gezwungen werden. Als Fazit kann man vielleicht sagen: Es ist schon viel passiert, es gibt aber noch was zu tun.“

Louis fragte außerdem nach der Rolle von Krisen für die Gesellschaft und verwies auf die Klimakrise und Fridays for Future. Herr Dr. Schäuble betonte die Rolle von Krisen: „Krisen sind Chancen, das habe ich schon immer gesagt.“ Er halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass der Weltuntergang bevorstehe. Herr Dr. Schäuble betonte auch, dass ein Umdenken bei jedem persönlich gefragt sei. 80 Prozent der Bevölkerung sprächen sich dafür aus Kohlenstoffdioxid-Werte reduzieren zu wollen, jedoch seien auch 80 Prozent gegen die Erhöhung des Benzinpreises. „Es ist richtig, dass die jungen Menschen sich für den Erhalt der Schöpfung einsetzen. Ihr habt es in der Hand. Denkt aber nicht zu viel über den Weltuntergang nach. Freut euch des Lebens und macht was draus.“

fragen_nadine_r10_0.jpgDie Zeit war wie im Flug vergangen und so blieb nur noch wenig Zeit für Fragen aus dem Publikum. Nadine stellte stellvertretend die Fragen der Klassen R10a und R10b. Auf die Frage, welche Nachteile der Wiedervereinigung er sehe, antwortete Herr Dr. Schäuble: „Keine, eigentlich gab es nur Vorteile! “ Oliver aus der J1 fragte, ob das Amt des Bundestagspräsidenten in den letzten 30 Jahren in der Ausübung schwieriger geworden sei. Herr Dr. Schäuble gab zu, dass das Amt des Bundestagspräsidenten sehr viel weniger anstrengend sei, als das des Finanz- oder Innenministers. Er hatte sich vor seinem Amtsantritt gedacht: „Wenn die das wollen, kann ich das noch machen.“

„30 Jahre Mauerfall – Neue Mauern in den Köpfen?“ Herr Dr. Schäuble hatte den Schülerinnen und Schülern Mut gemacht, sich diesen Mauern in den Köpfen durch Begegnung, Dialog und gemeinsames Engagement entgegenzustellen. Frau Heckner bedankte sich herzlich bei Herrn Dr. Schäuble und allen Beteiligten, besonders bei den Schülerinnen und Schülern.

Da es eine besondere Ehre ist, einen solch berühmten Gast in der Stadt Ettenheim zu empfangen, bedankte sich auch der Bürgermeister Bruno Metz ganz herzlich. Herr Metz hatte das goldene Buch der Stadt im Gepäck und bat Herrn Schäuble und alle Beteiligten, sich darin einzutragen.

Mit diesem Vormittag, dem anschaulichem Vortrag und dem anregenden Austausch mit den Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern, hat Herr Dr. Schäuble den Auftakt des Jubiläumsjahres der Heimschule St. Landolin eingeleitet. Dieser Besuch wird sicher in die bald 100- jährige Geschichte der Schule eingehen und schenkte wirklich interessante Einblicke zur deutschen Wiedervereinigung vor 30 Jahren.

 

Text und Bilder: Isabell Rügner

 

Lesen Sie auch die Beiträge zu dieser Veranstaltung in der Badischen Zeitung vom 12. Oktober 2019 und der Lahrer Zeitung vom 11. Oktober 2019.