„Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten“, so beschreibt Georg Büchner (1813-1837) sein Selbstverständnis in einem Brief. Die von Büchner erschaffenen Figuren standen daher im Mittelpunkt beim Gastspiel des „THEATERmobileSPIELE“ an der Heimschule St. Landolin. Die Deutschkurse der gymnasialen Oberstufe am allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasium, die kurz vor dem Abitur stehen, erlebten die als Klassenzimmertheater konzipierte Textcollage „Büchner. Die Welt. Ein Riss“ von Regisseur Thorsten Kreilos.
Theater im Klassenzimmer – ein scheinbar bequemes Vergnügen, denn Schülerinnen und Schüler müssen sich nicht auf den Weg ins Theater machen, sondern das Theater kommt in ihren Alltag. Die Inszenierung „Büchner. Die Welt. Ein Riss“ bringt auf diesem Wege Schülerinnen und Schülern die Gedankenwelt Georg Büchners wortwörtlich nahe, denn die Schüler sitzen nur wenige Meter von der Bühne, die das halbe Klassenzimmer füllt und der Schauspieler sucht in diesem Einmannstück immer wieder Augenkontakt und die Nähe zum Publikum. So werden fließende Übergänge geschaffen zwischen den Hauptfiguren der Dramen „Leonce und Lena“, „Woyzeck“ und „Dantons Tod“ sowie dem mit dem Wahnsinn ringenden Lenz aus der gleichnamigen Erzählung. Hineinmontiert sind Passagen aus Büchners Briefen und politischen Schriften. Durch die beeindruckende Spielleistung und die körperliche Nähe zwischen Schauspieler und Publikum entsteht dann jedoch keine bequeme, aber eine dichte Atmosphäre, in der assoziativ zentrale Gedanken und Motive aus Büchners Werk szenisch umgesetzt werden.
Zum Verständnis war es da sicherlich hilfreich, dass sich die Schülerinnen und Schüler im Unterricht nicht nur ausführlich mit dem für das Abitur relevanten Drama „Dantons Tod“ auseinandergesetzt hatten, sondern zur Vorbereitung auf diese Inszenierung auch die anderen Texte Büchners, die historischen Hintergründe seines Schaffens und theaterpraktische Fragen der Inszenierung erarbeitet hatten. So konnten sie durch Kreilos‘ Inszenierung in Büchners Welt eintauchen, die sich tatsächlich als eine Welt der Risse offenbart: Politisch ist der Riss zwischen Revolution und Restauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unübersehbar. Büchner aber blickt tiefer: auf die religionsphilosophischen Fragen nach Gottesglaube und Atheismus, die existentiellen Frage nach der Bedeutung von Sterben und Tod für das Leben und die psychologische Frage nach der Selbstwahrnehmung und Identität des Menschen. Herausragend gelingt hierbei der Dialog zwischen den Antagonisten Danton und Robespierre. Ist Gewalt der richtige Weg für die Revolution? In der Wahl der Mittel sind sie sich uneins – und verkörpern damit den offensichtlichen Riss im Revolutionsdrama „Dantons Tod“. Kreilos verbindet dies direkt mit den unsicheren Selbstreflexionen beider Figuren: So eindeutig sie sich in ihrer Feindschaft zeigen, so zerrissen zeigen sie sich in der Auseinandersetzung mit sich selbst.
Büchners große Kunst der psychologischen Analyse von Figuren, der pointierten Inszenierung philosophischer Diskurse und der eingängigen Aufrufe zu aufgeklärtem und politischem Denken und Handeln wurden durch die Inszenierung „Büchner. Die Welt. Ein Riss“ eindrucksvoll vorgeführt. Das anschließende Gespräch mit dem Regisseur Thorsten Kreilos zeigte, dass die Schülerinnen und Schüler diese – zwar nicht bequeme, aber eindrückliche – Abiturvorbereitung interessiert und dankbar aufnahmen.
Text: Jakob Katzmann
Bildquelle: THEATERmobileSPIELE