Spannende Gedanken und Fragen zu Schulsystem und Demokratiebildung

 Sandra Boser, Landtagsabgeordnete und Staatssekretärin für Kultus, Jugend und Sport besucht die Klassen R10c und R10d der Realschule

Am ersten Tag nach den Fastnachtsferien stand für die Klassen R10c und R10d mit ihren Gemeinschaftskundelehrern Jason Sturm und Holger Gißler ein besonderer Schultag auf dem Programm. Die Klassen hatten sich in den vergangenen Wochen intensiv mit dem Thema Gestaltung von Schule und Demokratiebildung auseinandergesetzt. Alle waren gespannt auf den Austausch mit Sandra Boser und hatten eine Vielzahl an Fragen, Meinungen, Ideen und Gedanken vorbereitet. 

Für die Schülerinnen und Schüler, die kurz vor ihrer Abschlussprüfung stehen und sich momentan viele Gedanken über ihren weiteren Lebensweg machen, war Frau Bosers persönlicher Werdegang, mit dem sie sich kurz vorstellte, besonders interessant. Als Arbeiterkind aus Wolfach besuchte sie selbst die Realschule. Nach einem Praktikum in einer Parkinsonklinik wollte sie eine Ausbildung zur Krankengymnastin machen. Da diese erst ab 18 Jahren angeboten wurde, entschied sie sich das Abitur zu machen. Ihre Familie wünschte sich für sie einen schnellen Einstieg in den Beruf und so musste sie darum kämpfen, studieren zu dürfen. Ihr duales BWL-Studium musste sie mit Nebenjobs finanziell noch unterstützen. Demnach war sie es früh gewohnt viel zu lernen, zu arbeiten und sich selbst zu versorgen. Seit 2011 ist sie Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg für die Grünen und beschäftigt sich somit schon lange Zeit mit bildungspolitischen Themen.

Auch einige Schülerinnen und Schüler der R10d stellten sich persönlich vor und sprachen über ihre Pläne und Berufswünsche nach dem Realschulabschluss. Dabei fiel auf, dass fast alle vorhatten Abitur zu machen. Frau Boser überraschte das nicht. 70 Prozenz der Realschulabsolventinnen und -absolventen gehen nicht in eine duale Ausbildung, sondern entscheiden sich dafür, das Abitur zu machen. Frau Boser betonte, dass das auch das Ziel von Bildungspolitik sei: allen die Möglichkeit zu geben, den bestmöglichen Bildungsabschluss zu machen. Angesprochen auf den Fachkräftemangel in fast allen Berufen betonte sie, dass auch nach dem Abitur eine duale Ausbildung möglich ist und nicht unbedingt ein Studium angestrebt werden muss. Herr Gißler wies auf den Pflegenotstand hin und die Idee mithilfe eines Pflegetags Berührungsängste mit dem Berufsfeld abzubauen. Die R10d hatte das Thema „Berufsorientierung und Schule“ vorbereitet und gestaltete den Austausch mit polarisierenden Schlagzeilen aus der Presse. Die Schülerinnen und Schüler bezogen erst noch etwas schüchtern, dann aber immer offener Stellung zum Thema Schule und Unterricht. Dabei wurde auch kritisiert.

So fragten sich einige, ob es denn zeitgemäß ist, dass Schule immer noch so funktioniert wie vor 20 Jahren: 30 Kinder, ein Lehrer, ein Raum, Fachwissen und Auswendiglernen. Frau Boser versuchte den Bildungsplan mit seiner Kompetenzorientierung zu erklären und unterstrich, dass Lernen bereits neue Wege einschlägt. Hierbei sei immer die Frage, wie kann ich den Unterricht verändern, dass neben Fachwissen auch Kreativität, Kommunikation, Kooperation, kritisches Denken und viele andere dynamische Prozesse möglich werden. Frau Boser betonte auch, dass Schulen und Lehrkräfte hier gefragt sind, neue offenere Konzepte und individuelles Lernen auf den Weg zu bringen. 

Die Klasse 10d stellte ihre Überlegungen zu einem Kurssystem mit Interessen- und mehr Lebensbezug in höheren Klassen vor und stellte die Sinnfrage bei verschiedenen Fächern und Inhalten. Frau Boser machte deutlich, dass die Zeit nach der Grundschule dafür gedacht sei, Einblicke in alle Fachbereiche zu bieten und deren Grundlagen zu lernen. „Erst danach kann man wissen, welche Richtung man einschlagen möchte.“ Demnach sei es schwierig, einzelne Themenbereiche und Fächer zu streichen, auch wenn sie manchen nicht besonders wertvoll erscheinen. Auch das Notensystem mit seinen Schwächen wurde hinterfragt. Frau Boser beschrieb alternative Leistungsrückmeldungen und vermutete, dass das Thema Noten noch lange ein Diskussionsthema bleiben wird. 

Den Abschluss des ersten Teils bildeten besonders zwei Fragen: „Was würden Sie als erstes tun, um unser Schulsystem zu verbessern?“ Hier war Frau Boser sich schnell sicher: „Ich würde neue Unterrichtsformen erproben und nutzen.“ Die letzte Frage bildete die Überleitung zum zweiten Thema des Vormittags: „Welche Themen sind Ihnen am wichtigsten, wenn es um Demokratiesicherung geht?“ Frau Boser betonte die Bedeutung von Klimaschutz und Demokratiebildung als besonders wichtige politische Aufgaben und erhielt dafür nickende Zustimmung von den Schülerinnen und Schülern.

Demokratiebildung war das Stichwort für die R10c. Die Klasse hatte sich eingehend mit dem Thema auseinandergesetzt und definierte für alle Anwesenden den Begriff. Mit Hilfe einer Klassenumfrage hatte die Klasse im Unterricht versucht einzuschätzen, ob Schule ihre Aufgaben im Bereich Demokratiebildung erfüllt. Lernen wir nach Regeln zu streiten bzw. zu diskutieren, fair und respektvoll zu argumentieren, Zivilcourage zu zeigen, Demokratien eindeutig von Diktaturen zu unterscheiden, gesellschaftlichen Zusammenleben zu gestalten? Nicht immer fiel das Urteil der Klassenumfrage positiv aus. Frau Boser durfte einschätzen, wie die Klasse abgestimmt hatte. Oft kannte und verstand sie die Einschätzung der Schülerinnen und Schüler. Es gab allerdings auch Abweichungen. So stellte sich im Austausch heraus, dass sich die Klasse unter gesellschaftlichem Zusammenleben einen harmonischen, fairen Umgang miteinander vorstellte. Im Gespräch erkannten jedoch viele, dass zum gesellschaftlichen Zusammenleben auch gehört, zu lernen, wie man mit Meinungen und Verhalten umgehen kann, das der eigenen Vorstellung widerspricht. In diesem Bereich ist die Schule ein wichtiges Lernfeld auch für das Leben und den Beruf, betonte Frau Boser humorvoll. 

Auf die Frage, ob Demokratiebildung auch in ihrer Schulzeit eine Rolle gespielt habe, erzählte Frau Boser, dass in ihrer Schulzeit noch viel über den Nationalsozialismus gesprochen wurde und von der ersten Demonstration in ihrer Schulzeit gegen den Irak-Krieg. Demokratiebildung an sich gab es zu ihrer Schulzeit allerdings nicht. Auch Einblicke in Landes- und Bundespolitik oder echte Partizipation an politischen Prozessen gab es nicht. Partizipation in der Schule ist ein wichtiges Element von Demokratiebildung. Cellina Yildiz (Realschulsprecherin) und Franziska Ringwald (SMV-Gremium) tauschten sich mit Frau Boser über bessere Vernetzung im Rahmen des Programms „Aula“, Partizipationsmöglichkeiten und mehr Schülerbeteiligung bei der Gestaltung von Unterricht aus.

In diesem Punkt sieht Frau Boser auch die Grundsteine der Demokratie: Beteiligung, gehört werden, Respekt und Toleranz, offener Austausch und Auseinandersetzung mit gegenläufigen Meinungen. Mitgestalten zu dürfen, hält sie für ein wichtiges Element der Demokratiebildung. Lücken in der Demokratiebildung sieht sie vor allem darin, dass noch nicht sehr viele „Hearing-Situationen“ für einen Austausch zwischen Schülerinnen und Schülern, Schulleitungen und Politik (wie an diesem Morgen) stattfinden. Außerdem sei laut Frau Boser das Thema Zivilcourage noch deutlicher im Unterricht zu thematisieren. Auch Medienbildung sollte nach Frau Bosers Ansicht ausgeweitet werden, damit auch der Umgang mit Fake-News und anderen Manipulationen gelernt werden kann.

Auf die abschließende Frage, welche Note sie der Demokratiebildung in der Realschule geben würde, antwortete Frau Boser: „Trotz einzelner Lücken würde ich ihr gerne eine 2 geben, auch wenn es sicher noch viel daran zu arbeiten und verbessern gibt.“ Mit diesen Worten endete ein eindrücklicher Austausch, der für die Demokratiebildung ein wichtiger Baustein ist. Wir danken Sandra Boser herzlich, dass sie sich trotz Erkältung Zeit für uns genommen hat und für den interessanten Vormittag!

 

Lesen Sie auch den Beitrag der Badischen Zeitung vom 1. März 2023.

 

Text und Bilder: Isabell Rügner 

Bildquelle Porträtfoto Sandra Boser: Wikipedia