Im Herbst 2021 war die Staatssekretärin im Kultusministerium Sandra Boser (Grüne) zu Gast an der Heimschule St. Landolin. Im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern der SMV und des Leistungskurses Gemeinschaftskunde ging es unter Anderem um Schulpolitik unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie. Sandra Boser bat aufgrund der zum Teil kritischen Rückmeldungen der Schülerinnen um Schüler hier nochmal um eine genauere Sicht unserer Schülerinnen und Schüler.
Infolgedessen wurde eine aufwendige Umfrage unter allen Schülerinnen und Schülern gemacht. Die Ergebnisse fassen Carolin Schrempp und Eva Loewer (beide J2) in Brief an Sandra Boser zusammen, der hier auch veröffentlicht wird, da er im Namen der SMV und somit aller Schülerinnen und Schüler der Heimschule versandt wurde:
Sehr geehrte Frau Boser,
im November vergangenen Jahres besuchten Sie die Heimschule St. Landolin in Ettenheim. Nach dem Gespräch mit Schüler*innen der SMV und des Leistungskurses GK baten Sie um ein Stimmungsbild, wie Schüler*innen ihre Situation während der Coronapandemie wahrnehmen.
Eine der zentralen Fragen war in diesem Zusammenhang, ob wir Schüler*innen eine Generation der Chancen oder eine verlorene Generation sind.
Um möglichst umfangreiche Informationen erhalten zu können, haben wir an unserer Schule eine Umfrage durchgeführt, an der zahlreiche Schüler*innen aus allen Klassenstufen teilnahmen. 1.098 der abgegebenen Fragebögen waren gültig und konnten somit in die Ergebnisse einfließen.
Zur Annäherung an die Thematik und die zu untersuchende Fragestellung, beleuchteten wir den politischen, sozialen und emotionalen Aspekt sowie das Thema Lernlücken.
Die Umfrage ergab bemerkenswerte und wichtige Ergebnisse, die wir im Folgenden mit Ihnen teilen möchten.
Viele Schüler*innen hatten den Eindruck, dass Politiker*innen bei ihren Entscheidungen nicht ausreichend auf die Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen achten. 682 Teilnehmer*innen der Umfrage gaben an, sich in dieser Situation nur zum Teil von der Politik wahrgenommen zu fühlen. 323 Teilnehmer*innen fühlten sich überhaupt nicht wahrgenommen, während sich nur 42 wahrgenommen fühlten. Außerdem gab es bei dieser Frage einige Enthaltungen.
Bemerkenswert ist allerdings, dass trotz dieses Gefühls eine hohe Akzeptanz gegenüber den Maßnahmen, wie Schulschließungen, Masken und Corona-Testungen, herrschte. Die Einschränkung außerunterrichtlicher Veranstaltungen und die Einschränkung des Sportunterrichts war hingegen mit weniger Akzeptanz verbunden. Besonders junge Schüler*innen konnte diese beiden Maßnahmen nur wenig akzeptieren.
Viele Schüler*innen fühlten sich in den vergangen zwei Jahren also mangelhaft wahrgenommen, akzeptierten die Maßnahmen dennoch. Damit ist auch die Durchschnittsnote 3,3, die den Politiker*innen für die Coronapolitik gegeben wurde, erklärbar.
Die Bewertung ist jedoch sehr altersabhängig ausgefallen. Wir stellten fest, dass sich mit zunehmendem Alter eine negativere Wahrnehmung durchsetzt. Dies wird besonders mit Blick auf die Leit- und Abschlussfrage, ob sich Schüler*innen als verlorene Generation oder Generation der Chancen sehen, deutlich.
So sah in der Unterstufe eine deutliche Mehrheit ihre Generation als eine Generation der Chancen (72,6 %). In der Mittelstufe lässt sich ein ausgeglichenes Meinungsbild feststellen (verlorene Generation 48,4% und Generation der Chancen 51,6%). In der Oberstufe ist die Wahrnehmung umgekehrt, eine Mehrheit sah hier ihre Generation als eine verlorene Generation (56,8 %).
Neben der Entwicklungsstufe der Jugendlichen und den daraus resultierenden Folgen in der Wahrnehmung könnte in der Oberstufe ein möglicher Grund für das Ergebnis die zeitliche Nähe zum Abitur sein. In der Unterstufe sind die Gedanken noch nicht so stark von der Abschlussprüfung geprägt, weshalb einiges eher geduldet werden könnte.
Dennoch gaben bereits in der Unterstufe 64 Schüler*innen an, dass sie Angst hätten, den Anschluss in der Schule zu verlieren. 16 Teilnehmer*innen plagten berufliche Zukunftsängste. Diese Gruppe ist insofern also keine zu vernachlässigend kleine.
Am meisten ängstigte die Schüler*innen unserer Schule allgemein jedoch Einsamkeit (220 Stimmen) aber auch insbesondere die Gesundheit von Familie und Freund*innen sowie die eigene Gesundheit (323 Stimmen). In Bezug auf die Gesellschaft ängstige 107 Teilnehmer*innen die Zunahme von extremistischen Strömungen.
Zusammen mit der offensichtlich gewordenen Dysbalance zwischen gleichbleibenden schulischen Anforderungen und fehlender Freizeit könnten diese Faktoren dazu führen, dass 392 Schüler*innen angaben, während der Coronapandemie eine besondere emotionale Belastung empfunden zu haben.
Obwohl viele Schüler*innen eine besondere emotionale Belastung empfanden, ist die Gruppe derer, die keine emotionale Unterstützung bekommen hat, mit 83 Personen besorgniserregend groß. Deutlich wurde, dass die Familie und die Freunde der Teilnehmer*innen die wichtigsten Ressourcen für emotionale Unterstützung waren. Besonders in der Unterstufe kam Eltern und Geschwistern dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Familien junger Schüler*innen mussten demnach viel Unterstützung leisten.
Die Schule mit Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen steht an nächster Stelle. Die Schulsozialarbeiter*innen wurden den Umfrageergebnissen nach allerdings weniger für emotionale Unterstützung beansprucht als die Lehrkräfte. 35 Schüler*innen gaben an, zusätzliche professionelle Unterstützung, wie zum Beispiel eine Therapie, beansprucht zu haben.
Die Klassengemeinschaft ist durch die Coronapandemie laut 944 Teilnehmer*innen trotz fehlender außerschulischer Aktivitäten und Einschränkungen für den Sportunterricht gleichbleibend oder stärker geworden. Schüler*innen, die eine schlechtere Klassengemeinschaft beobachten, sehen den Grund dafür in den fehlenden Aktivitäten mit ihrer Klasse (193 Stimmen) und dem fehlenden direkten Kontakt mit Mitschüler*innen während des Fernunterrichts (192 Stimmen).
Bei Fragen zu Aspekten des Lernens war bei unserer Umfrage festzustellen, dass mit 591 Personen die Mehrheit das Gefühl hatte, weniger gelernt zu haben als sonst.
Festzustellen bleibt aber ebenso, dass Schüler*innen sich trotz dieser offensichtlichen Defizite kaum Sorgen um ihren Abschluss machten. Mit 560 Schüler*innen fühlte sich zum Zeitpunkt der Umfrage die Mehrheit gut auf die nächste Klassenstufe vorbereitet. Gleichzeitig gibt es eine nennenswerte Gruppe, die angibt, ihnen fehlten wichtige Grundlagen.
Der Unterschied zwischen jüngeren und älteren Schüler*innen ist hier allerdings zu beachten. Während in der Unterstufe und Mittelstufe noch eine deutliche Mehrheit davon überzeugt war, gut auf die nachfolgende Klassenstufe vorbereitet zu sein, fühlt sich in der Oberstufe annähernd die Hälfte aller Schüler*innen nicht gut auf die nächste Klassenstufe beziehungsweise das Abitur vorbereitet.
Vom Lernen während der Coronapandemie solle vor allem die individuelle Rückmeldung der Lehrer*innen im direkten Austausch oder über die Plattform Microsoft Teams, die an unserer Schule verwendet wird, erhalten bleiben. Diesen Wunsch äußerten 404 Teilnehmer*innen der Umfrage. Den meisten Zuspruch erhielt mit 772 Stimmen der Vorschlag, mehr mit digitalen Medien zu arbeiten. 348 Schüler*innen wünschten sich mehr selbstständiges Lernen.
Zusätzlich zu diesen Wünschen konnten die Teilnehmer*innen unserer Umfrage auch eigene Vorschläge für das zukünftige Lernen in der Schule äußern. Diese bewegen sich in ähnlichen Bereichen, wie die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, die oft gewählt wurden, gehen teilweise aber noch darüber hinaus. Oft wurde zum Beispiel eine sogenannte „Teilzeit-Schule“ gewünscht, also eine Schule mit Selbstlernzeiten beziehungsweise ein hybrides System, in dem teilweise in der Schule und teilweise daheim gelernt wird, um mehr eigenständiges Lernen zu ermöglichen. Ein konkreter Vorschlag für ein solches System war das Lernen in der Schule an drei Tagen in der Woche, die übrigen zwei Tage solle man daheim lernen. Begriffe, die außerdem häufig als Vorschläge fielen, sind die der Digitalisierung und der Individualisierung.
Darüber hinaus war ein weiteres Thema unserer Umfrage, wie sich Schüler*innen über die Coronapandemie und die damit zusammenhängende Politik informierten. 643 Schüler*innen gaben an, sich über Social Media zu informieren. In der Oberstufe ist Social Media sogar das meistgenutzte Informationsmedium. Um welche Apps und Accounts es sich hier handelt, ist nicht näher hinterfragt worden.
Faktoren wie die ungleiche Geschlechterverteilung in vielen Klassenstufen, die verschiedenen Schularten, die kirchliche Trägerschaft unserer Schule und einiges Weitere führen dazu, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ für alle Schüler*innen in Baden-Württemberg sein können. Dennoch zeichnen sie unserer Meinung nach ein tiefblickendes Bild der Gefühlslage vieler Schüler*innen, welches unserer Meinung nach durchaus wichtige Erkenntnisse liefert. Diese sind im Wesentlichen, dass die Teilnehmer*innen sich nicht ausreichend von der Politik wahrgenommen fühlen und während der Coronapandemie weniger lernten. Außerdem wurde eine enorme psychisch-emotionale Belastung bei den Schüler*innen deutlich. Besonders mit Blick auf eine mögliche neue Infektionswelle im Herbst dieses Jahres sind diese Ergebnisse auch für die Zukunft nach wie vor brisant.
Zu Beginn der Coronapandemie hatten Schüler*innen einen unschätzbar hohen Beitrag zum Schutz vulnerabler Gruppen geleistet und ihre eigenen Bedürfnisse hintenangestellt. Aus diesem Grund sollte die Politik nun die Rahmenbedingungen schaffen, dass Unterstützungsangebote umgesetzt werden können. Außerdem wünschen wir uns, dass die Interessen von Schüler*innen in Zukunft deutlich stärker gehört und wahrgenommen werden, um den Bedürfnissen gerecht zu werden. Nur so kann vermieden werden, dass unsere Generation in der Tat zur verlorenen Generation wird.
Die SMV der Heimschule St. Landolin hofft, dass die vorgestellten Ergebnisse Ihnen die Gefühlslage unserer Schüler*innen angemessen darstellen konnten und helfen, die Situation vieler junger Menschen nachvollziehen zu können, damit eine Politik möglich wird, die bestmöglich darauf reagieren kann.
Mit freundlichen Grüßen
Carolin Schrempp und Eva Loewer im Namen der SMV der Heimschule St. Landolin Ettenheim
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