Am 9. November jährte sich die Reichsprogromnacht, in der in ganz Deutschland jüdische Bürgerinnen und Bürger Opfer von Gewalt wurden und viele Menschen aus der Bevölkerung zu Täterinnen und Tätern wurden. Bis heute ist dieses Datum daher ein Symbol für die Schuld an der Verfolgung der Juden und dem Holocaust. Aus diesem Anlass hielt Norbert Klein, der sich intensiv mit dem Schicksal der Juden in der Region Lahr und Ettenheim beschäftigt, einen Vortrag vor Schülerinnen und Schülern von Realschule und Gymnasium an der Heimschule St. Landolin. Für die Badische Zeitung (Ausgabe vom 12. November 2018) berichtete Bertold Obergföll so:
Täter nennen, Erinnerung wachhalten
Vor rund 80 Jahren sind in der Reichspogromnacht in Deutschland mehr als 1200 Synagogen zerstört und angezündet worden, jüdische Mitmenschen wurden verletzt oder getötet. Der Ettenheimer Realschulrektor Thomas Dees hat dies zum Anlass genommen, den Blick auf die lokale Geschichte zu lenken. Norbert Klein, Mitglied des Historischen Vereins Mittelbaden und gebürtiger Ettenheimer, referierte vor über 200 Jugendlichen der Realschule und des Gymnasiums und deren Lehrern über „Jüdische Schicksale im Amtsbezirk Lahr“.
Eben war noch quirliges Treiben in der Mensa gewesen, nun führte Klein mit historischem Bildmaterial zu den erschreckenden Vorgängen jener Tage. Bereits nach der Machtübernahme durch die NSDAP habe es Bücherverbrennungen gegeben, seien Geschäfte von Juden boykottiert worden. Beleidigung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Juden waren die Folge. Mit der Einführung der sogenannten Nürnberger Gesetze seien sie mit dem Zwang zum Namenszusatz Sara und Israel abgestempelt worden. Bis zum Beschluss der Wannseekonferenz 1942 sei es zunächst hauptsächlich darum gegangen, die Juden loszuwerden. Dahinter stand bei der NSDAP die Absicht, an das Vermögen dieses Bevölkerungsteils zu kommen.
So wurden nach Kleins akribischer Suche im Amt Lahr in jener Pogromnacht 109 Männer festgenommen, „in Schutzhaft genommen“, wie es die SA der Bevölkerung glaubhaft machen wollte. Die SA habe die Tatsachen verdreht, indem sie Zerstörungen einer angeblichen „Volkswut“ zurechnete. Die Bürgermeister der Gemeinden im Amt Lahr habe man vorsorglich zu einer Veranstaltung in Lahr einbestellt, damit sie nicht eingreifen beziehungsweise verantwortlich gemacht werden konnten. Jugendliche der HJ-Schule in Lahr hätten gewütet, maßgeblich unterstützt durch den damaligen Ettenheimer Bürgermeister Eduard Seitz und den NSDAP-Kreisleiter Richard Burk. Die SA-Leute seien außerdem an diesem Abend in heftiger Feierlaune gewesen, da die Niederlage beim Hitler-Putsch am 9. November 1923 von der NS-Partei seit Jahren an diesem Tag als „Erfolg“ der Bewegung gefeiert worden sei. Das Attentat auf den Botschaftssekretär von Rath in Paris habe den SA-Leuten als willkommener Anlass gedient, „die Sau rauszulassen“, so Norbert Klein.
In der „Schutzhaft“ habe es das Angebot gegeben, das Land verlassen zu können. Das habe den Verkauf von Hab und Gut zu einem „Spottpreis“ beinhaltet, dazu die Zahlung einer Reichsfluchtsteuer, womit die NS-Regierung einen Milliardenbetrag zur Vorbereitung des folgenden Krieges einnehmen konnte. Aus Angst vor Repressalien gegen die eigene Familie hätten die Verhafteten nach einer Entlassung geschwiegen. „Wer den Mund aufmachte, wurde von der SS geholt.“ In Ettenheim seien acht, in Altdorf sechs, im Amtsbezirk Lahr insgesamt 129 Männer betroffen gewesen.
Klein will die Täter benennen, will andererseits die Erinnerung an die Vertriebenen und Ermordeten wachhalten. Er sieht das als Respekt vor den Opfern und als seine Aufgabe des Erinnerns, der er sich seit 2013 ganz besonders zugewendet hat. Er zeigt an Karten den Schicksalsweg der deportierten badischen, elsässischen und pfälzischen Juden über Offenburg und Vichy in das Internierungslager Gurs auf, nach Paris-Drancy und zu deren Ermordung in Auschwitz-Birkenau. Er nennt Namen von Betroffenen und Opfern, nennt Hedy Epstein, geborene Wachenheim, nennt Fanny Lion oder Ida Blum, Marie Haberer, Lilly Reckendorf und Heinz und Kurt Maier, stellvertretend für die übrigen fast 7000 Opfer. Er nennt den Gauleiter Robert Wagner, nennt Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann und Joseph Bürckel als Gauleiter in der Pfalz.
Viel Grundlegendes war den Schülerinnen und Schülern aus dem Geschichtsunterricht bekannt, nicht aber das, was die Ereignisse vor Ort, in Ettenheim, Altdorf oder Kippenheim betraf. So in Kippenheim, wo die Synagoge allein aus Sorge um die Sicherheit der umstehenden Häuser nicht angesteckt, aber dennoch im Inneren verwüstet wurde. Er hoffe sehr, dass die jungen Menschen nun besser verständen, was hinter der Stolperstein-Aktion stehe.
„Sehr interessant, vor allem wegen dem Lokalen, aber auch ziemlich anstrengend“, so der Kommentar einiger Jugendlicher. Realschulrektorin Nicola Heckner bedankte sich beim Referenten: „Jede Schülergeneration muss sich ihr eigenes Bild von der Geschichte machen“, dazu habe Klein Wesentliches beigetragen.
Thomas Dees erzählte danach, wie sein Vater, damals neun Jahre jung, von dessen Großvater eine gehörige Tracht Prügel bekommen habe, weil er sich als kindlicher Zuschauer über das Knallen von Fensterscheiben und aus dem Fenster geworfenen Marmeladengläsern gefreut habe. Als 1988 Überlebende der Verfolgung nach Ettenheim eingeladen wurden, habe er die seltsamste Stadtführung seines Lebens gemacht: Die „Gäste“ aus aller Welt hätten ihm die Stadt gezeigt und mehr über seine Großmutter gewusst als er selbst. Schließlich seien sie, das wurde ihm damals klar, Ettenheimer – allerdings mit besonderer, leidvoller Erfahrung.
Text: Bertold Obergföll
Bilder: Thomas Dees