Der freie Wille – eine Illusion? Themenwoche der Abschlussklassen am Gymnasium

„In Wirklichkeit ist es doch so…“ sagen wir oft und scheinen damit zu sagen: Es gibt genau eine richtige Auffassung von der Wirklichkeit. Mit großer Überzeugungskraft und großer Autoritätsanspruch treten insbesondere die Naturwissenschaften mit ihrem Anspruch auf Objektivität auf. Oft scheinen also die Naturwissenschaften die letzte Autorität zu sein, die sagt, wie es „wirklich“ ist. Ob dieser Anspruch berechtigt ist und wie weit er trägt, waren die Fragen, mit denen sich die Schülerinnen und Schüler der Kursstufe J2 und der Jahrgangsstufe 13 des Beruflichen Gymnasiums im Rahmen der Themenwoche am Gymnasium auseinandersetzten.

Im Laufe der Woche erarbeiteten sich die Schüler drei thematische Schwerpunkte: grundsätzliche Fragen der Erkenntnis (angeleitet von Michael Jülich und Daniel Gaschick), Problematik von Schöpfung und Urknall (Daniel Kurz und Christopher Bühler) und der freie Wille (Joachim Nebel und Matthias Küchle).Eine zentrale Frage lautete somit, ob es den freien Willen überhaupt gibt oder ob wir nicht nur im Nachhinein „wollen, was wir - vom Gehirn quasi ferngesteuert - tun“ (Neurowissenschaftler Wolfgang Prinz).

Auf verschiedenen Wegen näherten sich die Schüler der Frage. Dabei lernten sie zum Beispiel das klassische Experiment von Benjamin Libet kennen. Um die Fragestellung naturwissenschaftlich in den Griff zu bekommen, ließ Libet seine Versuchspersonen nach freier Wahl eine Taste drücken. Er kam zu dem Ergebnis: Schon bevor wir eine Entscheidung bewusst treffen, ist im Gehirn ein sogenanntes Bereitschaftspotenzial messbar. Er schloss daraus: Das Gehirn entscheidet, bevor wir uns dessen bewusst sind.

Die modernen bildgebenden Verfahren scheinen solche Ergebnisse zu bestätigen. Wenn das so ist, dann ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Vorstellungen von Schuld, Verantwortung und Strafe. Der Neurowissenschaftler Gerhard Roth denkt darüber nach, im Hirnscan erkannte potentielle Gewalttäter vorsorglich „wegzusperren“. Gibt es für das Unbehagen angesichts solcher Thesen sachliche Argumente?

Zunächst müssen die Versuche selbst befragt werden: Sind sie methodisch korrekt? Decken die Versuchsanordnungen die getroffenen Aussagen? Kann man zum Beispiel anhand der „Entscheidung“, eine Taste zu drücken, Aussagen machen über die Freiheit, mit der ich z. B. einen Partner wähle oder andere wichtige Lebensentscheidungen treffe? Inzwischen wird auch von verschiedenen Naturwissenschaftlern die hier umrissene Interpretation des Libet-Versuchs infrage gestellt.

Eine grundsätzliche, philosophische Frage lautet: Verwenden die Naturwissenschaftler angemessene Begriffe? Schärfer formuliert: Können Neurowissenschaftler überhaupt über Freiheit sprechen? Können Forschungsmethoden, die nur nach den Bedingungen eines Phänomens fragen, etwas über die Freiheit sagen, die doch gerade durch die Bedingungslosigkeit definiert ist? Wie definieren wir selbst Freiheit? Ist der Freiheitsbegriff, den die Neurowissenschaftler angeblich entlarven, überhaupt richtig? Eine Freiheit, die nicht die Freiheit, einer konkreten Frau, eines konkreten Mannes usw. mit konkreten Eigenschaften, also mit konkreten Bedingtheiten ist, kann man sich bei rechter Überlegung nicht denken. Ich kann mich nicht frei entscheiden, jetzt nach Hause zu fliegen. Schon von daher ist der Begriff der bedingungslosen Freiheit falsch, den die Neurowissenschaftler angeblich widerlegen.

Die Kritik der mit naturwissenschaftlichen Argumenten vorgetragenen Ergebnisse führt zu der Grundfrage: Wie wird Wirklichkeit erkannt, was ist Wirklichkeit? Die Leistungsfähigkeit aber eben auch die Grenzen der Naturwissenschaften werden deutlich. Wenn man gesehen hat, dass auch bei einem toten Fisch im MRT Hirnaktivitäten zu sehen sind wie in einem Versuch des Gehirnforschers Craig Bennett von der University of California im Jahr 2012, mit dem Bennett die unsaubere Auswertung von Versuchen drastisch kritisierte, und wenn man sich mit den Möglichkeiten der Beobachtung von Wirklichkeit genauer auseinandergesetzt hat, kann man nicht mehr einfach sagen: Ich glaube nur, was ich sehe.

Intensiver, als dies im normalen Unterricht möglich ist, konnten sich die Schüler mit den Fragen nach Erkenntnis, Wirklichkeit und Freiheit auseinandersetzen. Dass die Fragen nicht mit dem Schulgong erledigt waren, zeigte sich auch daran, dass eine große Anzahl von Schülern der Einladung folgte, sich nach Ende der Projektwoche noch in gemütlichem Rahmen zusammenzusetzen.

 

Text: Matthias Küchle

Bilder: Matthias Küchle, Joachim Nebel

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